„Legomännchen in einer Playmobilwelt“

Postkarte von Charles Bell (amerikanischer Künstler, 1935-1995), Before the journey, 1986. Pastell und Farbstift auf Papier, 99 x 147 cm.
Erworben in der Emder Kunsthalle, am 4.4.18, Ausstellung: American Dream. Amerikanischer Realismus 1965 bis 2017.

Vorgestern am Tage war ich guten Mutes. Am Abend tief verzagt. Gestern war ich mittags müd‘, schuftete draußen gemeinschaftlich, statt zu ruhen. Am Abend war ich hoch aggressiv innerlich. Stetiger Wechsel wallender Gefühle. Kräftezehrend. Jedoch geht es bei mir nicht um fehlenden Lebensmut (im Vergleich zu meinem Vater oder im Vergleich zu Richard Hallgarten (vgl. Artikel zuvor), für den das Leben ein Fluch war), sondern um die oftmals fehlende LebensKRAFT und Zuversicht. Manchmal erscheint mir das Leben wie ein stetiger Kampf – gegen Widrigkeiten, gegen Störungen, gegen Unausweichlichkeiten, gegen Unvorhersehbarkeiten, gegen Dämonen, gegen den Geist, den es zu bezähmen gilt. So versuchte ich bereits in AUR trotz anhaltender, körperlicher Schwäche, die zerrte, kostbare Momente des Lebens zu sammeln (Sonnenstrahlen, Draußen-Sein mit den Kindern, Igelbegegnungen, Vogelbeobachtungen und -belauschungen, Kunstbetrachtungen (s.o.)…). Hatte ich doch zuvor in FL „Die Leichtigkeit“ von Catherine Meurisse gelesen, ein Comic, in der die Zeichnerin von Charlie Hebdo ihr Überleben verarbeitet: Ich habe fest vor, wach zu bleiben, schon auf das kleinste Anzeichen von Schönheit zu achten. Jene Schönheit, die mich rettet, indem sie mir Leichtigkeit zurückgibt (1). Denn dass das Leben alles vermischt (2), das weiß auch ich.

Mantramäßig zitiere ich mehrmals am Tag im Kopf meine Nachbarin E., die am Tag unserer Rückkehr aus AUR an unserer sonnenbeschienenen Terrasse vorbeikommt und sich im Angesicht des unerwarteten Herztodes ihrer ehemaligen Chefin vorgenommen hat, „nicht eine Sekunde ihres Lebens in Trübsal zu verbringen – was schwer ist“. „Wem sagst du das!“ rufe ich leicht hysterisch lachend hinterher.

Am Dienstagabend wohne ich einem Kasperltheater bei, symbolisch für des Lebens Wechselspiel: ich starre nach unserer wiederaufgenommenen, abendlichen Meditation aus dem Fenster und erblicke, noch matt vom stillen Weinen am Bett meines Sohnes aufgrund schmerzlicher Erinnerungen an Verfehlungen meinerseits beim Anblick des kostbaren, einschlafenden Kindes, zwei Baumkronen in der Ferne, deren dünne Äste kasperlfigurengleich sich im Wind einanderzuneigen und wieder voneinander wegstreben, so wie der Kasperl, der dem Sepperl eins mit der Holzkeule überziehen will und umgekehrt (oder war’s der Wachtmeister?). Unterhalb des surreal anmutenden Naturspiels blicken mich zwei rotleuchtende Augen drohend an, dem Wolf aus der Verfilmung der „Unendliche(n) Geschichte“ gleich, den ich als Kind sah (Auflösung: es waren lediglich verschwommene, sich in der Fensterscheibe spiegelnde Digitalzahlen des Herdes).

Zum Titel: G., Asperger Autist, Tagestreff Flensburg, in einem Gespräch mit T. am 31.10.17, vgl. http://tilmankoeneke.de/2017/10/31

1: ebd., HH 2017, S. 133.

2: ebd., aus dem Vorwort von Philippe Lançon, der den Anschlag am 7.1.15 (Anm. meinerseits: ich las am Klinikort davon, erschüttert) schwer verletzt überlebte.