„Höflich sei der Mensch“

Zum Foto: Schattenselfie, 27.4.20., 12.00. 
Da wollte ich unbedingt einen Artikel veröffentlichen, hatte aber kein Bild. Just in dem Moment fiel mir mein Schatten ins Aug...

Zum Titel: s.u.

Robert Walser: Nervös (1916)

Ich bin schon ein wenig zermürbt, zerstochen, zerdrückt, zerstampft, durchlöchert. Mörser haben mich zermörsert. Ich bröckle schon ein wenig, falle schon ein wenig ab, ja, ja! Ich sinke ein und bin schon ein wenig am Vertrocknen. Ein bißchen bin ich schon verbrüht und verbrannt, ja, ja! Das kommt davon. Das kommt vom Leben. Alt bin ich zwar noch keineswegs, achtzig bin ich zwar noch keineswegs, aber ich bin auch nicht mehr sechzehn. Ganz bestimmt bin ich schon ein wenig alt und verbraucht. Das kommt davon. Ich falle schon ein wenig ab und bröckle, mörtle schon ein wenig. Das kommt vom Leben. Bin ich schon ein wenig abgelebt? Hm! Kann schon sein! Aber achtzig bin ich deswegen doch noch lange nicht. Ich bin sehr zäh, das kann ich gut versichern. Jung bin ich nicht mehr, aber alt bin ich auch noch nicht, ganz bestimmt nicht. Ich alte, welke schon ein wenig, aber das macht gar nichts; ganz alt bin ich noch nicht, obgleich wahrscheinlich schon ein wenig nervös und abgelebt. Es liegt ja in der Natur, daß man mit der Zeit ein wenig abbröckelt, das macht gar nichts. Sehr nervös bin ich übrigens nicht, ich besitze nur einige Schrullen. Ich bin manchmal ein wenig wunderlich und schrullenhaft, aber gänzlich verloren bin ich deswegen hoffentlich nicht. Ich will nicht hoffen, daß ich schon verloren bin, denn ich sage abermals, daß ich ungewöhnlich hart und zäh bin. Ich halte durch und halte stand. Ich bin ziemlich unerschrocken. Aber nervös bin ich ein wenig, zweifellos bin ich das ein wenig, sehr wahrscheinlich bin ich das ein wenig, möglicherweise bin ich das ein wenig. Ich hoffe, daß ich ein wenig nervös bin. Nein, ich hoffe es nicht, so etwas hofft man nicht, aber ich fürchte es, ja, ich fürchte es. Fürchten ist hier besser angebracht als Hoffen, ohne Zweifel. Aber Angst, daß ich nervös sei, habe ich sicher nicht, ganz bestimmt nicht. Schrullen habe ich, aber Angst vor den Schrullen habe ich nicht. Meine Schrullen flössen mir nicht die geringste Angst ein. „Sie sind nervös“, könnte mir irgendeiner sagen, und ich würde kaltblütig antworten: „Mein sehr geehrter Herr, ich weiß das wohl, ich weiß, daß ich ein wenig zermürbt und nervös bin.“ Und ich würde dabei sehr vornehm und sehr kühl lächeln, worüber der andere sich vielleicht ein wenig ärgern würde. Wer sich nicht ärgert, der ist noch nicht verloren. Wenn ich mich über meine Nerven nicht ärgere, so besitze ich zweifellos noch gute Nerven, das ist sonnenklar und leuchtet ein. Es leuchtet mir ein, daß ich Schrullen habe, daß ich ein wenig nervös bin, aber es leuchtet mir ebensogut ein, daß ich kaltblütig bin, worüber ich mich ungemein freue, und daß ich voll frohen Mutes bin, obgleich ich schon ein wenig alte, bröckle und welke, was ja in der Natur liegt und was ich daher sehr gut begreife. „Du bist nervös“, könnte einer kommen und mir sagen. „Ja, ich bin ungemein nervös“, würde ich zur Antwort geben, und ich würde heimlich über die große Lüge lachen. „Wir sind alle ein wenig nervös“, würde ich vielleicht sagen und über die große Wahrheit herzlich lachen. Wer noch lacht, ist noch nicht ganz nervös, wer noch eine Wahrheit verträgt, ist noch nicht ganz nervös; wer noch heiter zu bleiben vermag beim Anhören von etwas Peinlichem, der ist noch nicht ganz nervös. Oder wenn irgendeiner käme und zu mir spräche: „O du bist total nervös“, so würde ich ganz einfach höflich und artig sagen: „O ich bin total nervös, ich weiß es.“ Und die Sache wäre erledigt. Schrullen, Schrullen muß man haben, und den Mut muß man haben, mit seinen Schrullen zu leben. So lebt sichs nett. Es darf keiner Angst vor seinem bißchen Wunderlichkeit haben. Angst ist überhaupt töricht. „Sie sind stark nervös!“
„Ja, komme mir nur und sage mir das nur ruhig! Ich danke dir.”
So oder ähnlich würde ich reden und dabei meinen zarten, höflichen Spaß haben. Höflich sei der Mensch, warm und gut, und wenn ihm jemand sagt, daß er total nervös sei, so muß er durchaus nicht davon überzeugt sein
(1).

 

Genialster Robert Walser (2). Bitter und heiter zugleich. Lachte sehr mit P. am Telefon (3), ob der Wiedererkennung und ob der herrlichen Formulierungen.
Ich… mörtle schon ein wenig. Das kommt vom Leben. Bin ich schon ein wenig abgelebt? Hm! Kann schon sein!
Das kommt davon. Das kommt vom Leben. Alt bin ich zwar noch keineswegs, achtzig bin ich zwar noch keineswegs, aber ich bin auch nicht mehr sechzehn. Ganz bestimmt bin ich schon ein wenig alt und verbraucht.

Ich bin sehr zäh, das kann ich gut versichern.

Ich halte durch und halte stand.

Schrullen, Schrullen muß man haben, und den Mut muß man haben, mit seinen Schrullen zu leben. So lebt sichs nett (tut es das?). Es darf keiner Angst vor seinem bißchen Wunderlichkeit haben. Angst ist überhaupt töricht.

Höflich sei der Mensch, warm und gut…

So und anders manchmal halt ich’s. Und auch: Wer noch lacht, ist noch nicht ganz nervös, wer noch eine Wahrheit verträgt, ist noch nicht ganz nervös; wer noch heiter zu bleiben vermag beim Anhören von etwas Peinlichem (oder Bitterem), der ist noch nicht ganz nervös.

Jetzt gerade jedoch ist mir eher nicht zum Lachen zumute. Ich ärgere mich über meine Nerven (nicht so Walser). Bin den ständigen Wechsel leid: am Morgen noch frohen Mutes, weine ich kurze Zeit später, bin matt.
Versuche, aus meinem Schattenkünstlerdasein zu treten und mein Büchlein, was sich hier zu Hause stapelt, an einen Verlag zu bringen. Es bleibt bei der Recherche. Überfordert. Immer ist alles anders…
Beim Mittagessen habe ich Angst vor einem möglicherweise platzenden Luftballon. Versehentliches Geschirrscheppern lässt mich zucken und erzittern.
Mein Körper sammelt Zipperlein, vom gezerrten Knie bis zum schmerzenden Zeh. Immer dieses Ach und Weh

1: GW VI, S. 344-47, in: Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers „Jetztzeitstil“. FaM 1998, S. 72f. per Mail von P., 24.4.20.

2: vgl. auch Aus dem Bleistiftgebiet. Ich las von Robert Walser vor Ewigkeiten Geschwister Tanner. Wundervolle Sprache, obgleich ich mich fast nicht an die Geschichte erinnere. Außer, dass einer der Protagonisten bei einer Wanderung im Schnee erfriert - ebenso wie Walser nach Jahrzehnten in der Psychiatrie. So tragisch. 
Soeben nahm ich das Buch aus dem Suhrkamp Verlag in die Hand und entdecke auf dem Buchrücken ein Zitat von Peter Bichsel. Das ist ja nicht zu glauben! Hat mein Bruder mich doch just auf Erzählungen von ihm aufmerksam und mich so glatt zu einem Fan von ihm gemacht. Jetzt weiß ich auch, warum mir sein Name geläufig war.

3: Das Telefonieren mit P. ist ein Novum. Vermeide ich das Telefonieren doch im allgemeinen. Es strengt zu sehr an. P. und ich lachen immer, wenn ich nach einiger Zeit sage: "Jetzt baut mein Hirn ab. Wiedersehen!" Ich kann dann wirklich nicht mehr folgen, noch sprechen. Meiner Freundin A. ergeht es auch so, sagt sie. Wie gut zu wissen. Bin ich doch nicht so schrullig. ;-)