The obstacle is the way

 

Zum Titel: Buch von Ryan Holiday (2015), das T. im Original liest. Mich hindert das.

Zu den Bildern: Oza, Kohle und Pastellkreide auf Aquarellgrund, 02/24.

Aber dies alles hindert die Menschen nicht, in diesen Spalten herumzulaufen vom Morgen bis zum Abend. Ja, es gibt viele, die eine besondere Lust daran haben. Besonders in einigen Spalten ist ein Gewirre, und die Menschen fließen darin, wie ein dicker Schlick. Dies sind die Straßen, wo riesenhafte Glaskästen eingebaut sind, in denen alle die Dinge ausgebreitet sind, die ein Papalagi zum Leben braucht: Lendentücher, Kopfschmuck, Hand- und Fußhäute, Essensvorräte, Fleisch und wirkliche Nahrung wie Früchte und Gemüse und viele andere Dinge mehr. Sie liegen hier offen, um die Menschen anzulocken. Niemand darf aber etwas an sich nehmen, wenn er es auch noch so nötig hat, er muß dazu erst eine besondere Erlaubnis und ein Opfer dafür gebracht haben.
In diesen Spalten droht von allen Seiten viel Gefahr, denn die Menschen laufen nicht nur durcheinander, sie fahren und reiten auch kreuz und quer oder lassen sich in großen gläsernen Truhen, die auf metallenen Bändern gleiten, davontragen. Der Lärm ist groß. Deine Ohren sind betäubt,(…). Es ist ein allgemeines Sausen, Rasseln, Stampfen, Dröhnen, (…).
Dies alles zusammen nun: die steinernen Truhen mit den vielen Menschen, die hohen Steinspalten, die hin-und herziehen wie tausend Flüsse, die Menschen darin, das Lärmen und Tosen, der schwarze Sand und Rauch über allem, (…) – dies alles ist das, was der Papalagi eine „Stadt“ nennt. Seine Schöpfung, auf die er sehr stolz ist (1).

Ich nehme an einem Kunstmorgenkurs in HH teil: Papiergesang mit Gosia Machon. In meinem Kommentar zur Anmeldung schrieb ich: „Ich wohne in Flensburg, habe 5 Jahre in HH-Wilhelmsburg gewohnt, bin Gosia schon mal dort begegnet, habe 2006 an der Sommerakademie Pentiment (2) teilgenommen, kann unter Beobachtung nicht künstlerisch arbeiten und freue mich trotzdem“ (o.s.ä.). Insgesamt 8x findet der Kurs statt. 2x musste ich bereits absagen. Der Kurs selbst ist eine Herausforderung für mich, ebenso die wöchentliche Fahrt in die Großstadt. Zu meiner großen Freude und Erleichterung jedoch, kann ich bei meiner Freundin N. schlafen, fahre nach meinem Job am Donnerstag mit dem Zug per 49€-Ticket zu ihr und bin dort aufgehoben. Die regelmäßige Begegnung und der Austausch mit N. ist ein Geschenk. Ebenso die und der mit G. Hatte schon einmal vor, einen Kurs bei ihr zu belegen, die Herausforderung jedoch nicht gewagt. Nun sagte ich mir: „Du musst die Malerei zurück in Dein Leben holen!“ Wichtig war mir, dafür eine professionelle „Hebamme“ (3) zu wählen, die mir Anstöße gibt, um Bilder ans Licht zu bringen. Im Vorfeld träumte ich mehrfach von künstlerischem Tun und Menschenmengen: wandelte in blauen, von mir bemalten Räumen in einem Abbruchhaus herum; suchte in einem Kurs an einer Hochschule vergeblich nach Materialien, während alle um mich herum bereits freudig ihre fertigen Werke präsentierten, wählte für mich am Ende das kleinste Format; versuchte vergeblich, Menschenmassen, die wegen starken Regenfalls in unsere Küche drängten (die Küche ähnelte der meiner Tante G. auf dem Land), sie nur in diesem Raum unterzubringen, sie bevölkerten jedoch auch die anderen Räume. „Jetzt kann ich noch nicht einmal mehr auf mein eigenes Klo!“
Der Gedanke an den Kurs freute mich einerseits, andererseits überforderte er mich. So ist es immer noch. „The obstacle is the way!“ Allerdings frage ich mich, warum ich als hochsensible Person dann noch zusätzliche Hindernisse zu überwinden habe, so geschehen am 1.3., nach meinem zweiten Kursmorgen. T. hatte mir extra ein Flixbus-Ticket besorgt, weil wir wegen des anstehenden Zugstreiks davon ausgegangen waren, dass keine Züge fahren (meiner nach Hause tat es mittags doch, erfuhr ich später). Statt zu N. zurückzukehren und die Zeit bis zur Abfahrt in Ruhe bei ihr zu verbringen, irre ich zunächst 1 Stunde umher, um einen für mich geeigneten Platz zum Mittagessen zu finden. Ich betrete und verlasse insgesamt 8 Cafés/ Restaurants: zu voll, zu laut, zu stickig, zu teuer, zu groß, bis ich am Ende das köstlichste Falafelpide aus dem kleinsten Imbiss esse, dies jedoch im Gehen. Es ergeht mir wie im Papalagi beschrieben. Geschockt bin ich von all den vielen Menschen, die um mich herum in verschiedene Richtungen strömen. Am schlimmsten ist es in der Nähe des Hbf, eine Invasion elender Gestalten, am krassesten ein am Boden hockender Mann, David Lynchs Elefantenmensch gleich. Ich flüchte an einen Ort der Bourgeoisie inmitten des Elends: dem Museum für Kunst und Gewerbe. Krass, dieser Gegensatz. Ich fühle mich einerseits schäbig, da ich die Wahl habe, andererseits gerettet. In der Kunstbuchhandlung Walther König tanke ich auf, bedanke mich bei der jungen Frau an der Kasse für diesen Ort und ihn auch ohne Museumseintritt besuchen zu dürfen. Weine beinahe, als sie mir den „Freiraum“ empfiehlt, einem Raum im Museum, der kostenfrei zugänglich ist und in dem man verweilen kann. „Es gibt doch Orte für Menschen wie mich!“
Gestärkt mache ich mich auf den Weg zum Bus, dann stürzt mein Handy ab, ich kann mein Ticket nicht vorzeigen. Stehe bereits leicht panisch am Schalter mit meinem Perso in der Hand, mein Ticket muss ja im System zu finden sein, da funktioniert mein Handy wieder. Erleichtert will ich im Bus T. eine Nachricht schicken, da stürzt es wieder ab. In Kiel machen wir eine Pause, ich suche vergeblich ein öffentliches Telefon. „Die gibt es nicht mehr!“ Der freundliche Beamte am Bahnschalter vermittelt mir ein Telefongespräch mit T., dem ich nur mitteilen will, dass ich unterwegs bin und mein Handy nicht mehr funktioniert,  dieser erhält allerdings genau im selben Augenblick einen Anruf auf seinem Handy und bekommt überfordert nur die Hälfte mit. Nach 3 1/2 Std. Busfahrt, inklusive mehrfachen Zusammenschreckens meinerseits aufgrund zugeschlagener Busklappen, komme ich in FL an, es ist dunkel und ich habe am Rad, das ich am Bhf parkte, kein Licht, also schiebe ich in die Innenstadt, suche in zwei Geschäften nach Fahradlampen, finde sie, kann aber die verschweiste Plastikverpackungen nicht öffnen, gehe zurück ins erste Geschäft, kaufe eine Schere, versuche dann vergeblich, das Batteriefach der Vorderlampe zu öffnen, bitte einen sympathisch aussehenden jungen Mann, Typ Bandmitglied, um Hilfe, der schafft’s auch nicht. Untermalt wird die ganze Szenerie vom monotonen Gefasel eines betrunkenen Obdachlosen, der vor einem leeren Ladengeschäft hausiert. Der Klang seiner Stimme ist eigentlich schön, volltönend. Ich gebe die Lampensache auf, erwische den letzten Bus in meine Richtung, der eigentliche fährt wegen des Streiks nicht mehr, ertrage zerrüttet laute, dumpfe Schlaggeräusche der Karosserie, gehe 20 Minuten und bin nach insgesamt beinahe 5 Stunden zu Haus.
Am nächsten Morgen schickt mir mein elendes Mobiltelefon verspätet eine Nachricht von T., dass er am Abend in der Nähe des Bhf sei und mich abholen könne. Ich weine beinahe.

1: Der Papalagi. Die Reden des Südsee-Häuptlings Tuiavii aus Tiavea. Hrsg.: Christian-Georg Staehelin und Robert Tanner, Zürich 1980 (Originalausgabe von 1920), S. 36/37.
K. liest momentan diesen Klassiker meiner Jugend. Vor einiger Zeit zitierte sie die oben angegebenen Zeilen, passend für mich.

2: vgl. Störungen, 3x Schlaf, Zweifelnd im dünnen Nervenkostüm, Spinoza sagt: "Weine nicht, werde nicht ungehalten. Verstehe.".

3: Hebamme im sokratischen Sinne (vgl. Spuren hinterlassen).