Aus: „Stern 111″/ II

16.10.20.

„Was willst du damit?“
„Schreiben“, sagte Carl, „ich will schreiben.“ Er spürte die Lust, es Effi genauer zu erklären, wusste aber, dass er nicht mehr soviel reden durfte über diese Dinge, er wollte nicht derjenige sein, was immer das hieß: der Theoretiker, der Nichtkünstler -…
Das Ergebnis war ein kleiner Krampf in seinem Herzen (264).

Carl schwor sich, sein Leben jetzt ganz ernsthaft anzugehen. Die Arbeit an den Gedichten, das Buch als Fernziel. Ein eigenes Buch! Er musste nur diszipliniert sein, arbeiten, schreiben, dann war alles möglich. (…) Er dachte an Zeitschriften, die in Frage kamen. Einen Versuch war es wert… Über all das redeten sie, Carl und Effi im Shiguli, über alles, was nun kommen sollte. Und Effi stimmte ihm zu, machte ihm Mut, und sie sprach auch von sich selbst, was selten war (265).

Eine große Bewegung war eingetreten. Carl starrte auf das Blatt. Dieser Briefkopf war kostbar. Erstens „Unabhängig“, zweitens „Verlag“, drittens „Buchhandlung“,… Er war nicht mehr allein auf der Welt. Sie hatten sich gemeldet. Erdteile verschoben sich. (…) Schließlich hatte er alles Arielle zu verdanken. Und Henry, der die Gedichte weitergegeben, und Ragna, die ihn in das Haus geführt, und Hoffi, der sie dazu veranlasst, und dem Rudel, das ihn aufgelesen hatte, damals, im Fieber, hinter der Leinwand, am richtigen Ort, dachte Carl, (279/80).

Er hatte So-nie unterschätzt. Genauso Arielle. Er wusste nicht viel, im Grunde nichts, und die Welt war ein Geheimnis (281).

Es war seltsam, nur so dazustehen und das eigene Haus anzusehen, es hatte fast etwas Verbotenes, mindestens Unerwünschtes, es war ein Verstoß, eine Misstrauenserklärung. Das Haus wurde fremd dabei, und man selbst wurde auch fremd, und nach einer Weile war es nur noch schwer zu glauben, dass man dort wohnte. Und wenn man dann nicht bald aufhörte damit, konnte man kaum noch zurück und musste sich losreißen, seiner Wege gehen (wie man so sagt) und die Fremdheit schnell wieder vergessen, die bei jeder genaueren, wirklich aufmerksamen Betrachtung fühlbar wurde und unweigerlich die Oberhand gewann – die Fremdheit zwischen allem und einem selbst. Es ist wirklich schwer, die Dinge zu sehen, die man anschaut, dachte Carl. Aber das wusste jeder. Jeder, der einmal den Willen dazu aufgebracht hatte (281/82).

Eine Unruhe, die bisher tief in ihr verschlossen gewesen sein musste, wurde frei, fand einen Takt und verwandelte sich, wenn nicht in Ausgeglichenheit, so doch in eine lebbare Form des Daseins, Schritt für Schritt. Bis dahin sei alles wie angestemmt gewesen, so hatte es seine Mutter (…) gesagt (289).

Ohne Zweifel hatte die Arbeit an den Gedichten sein Denken verändert. Das war sicher gut und nur manchmal verwirrend. Wie von selbst stellten sich die krudesten Verbindungen her, Dummheiten, Kurzschlüsse, kostbarer Irrsinn, der sofort notiert werden musste. Carl hasste das anekdotische Gedicht, die kleine, vorhersehbare Geschichte, vor allem ihre Selbstgefälligkeit, diese glatte, schale Schlauheit… (298 f.).

…, und fiel in eine Art Kinderschrift zurück. Er erinnerte sich an Zeltplätze und Betriebsferienlager und die Pflicht, „sich wenigstens einmal pro Woche zu melden“. Brachte man das nicht zustande, würde man Sorgen bereiten oder die schon vorhandene Sorge noch einmal verdoppeln, und wäre also undankbar (343).

Die Tage, an denen Freddy bei Nora übernachtete, waren selten und kostbar. Carl wäre noch geblieben, aber Effi wollte allein sein. „Das habe ich so selten, du weißt“ (350).

Tatsächlich war es nötig, „alles“ zu notieren, jedes Bier, groß oder klein, Carl fehlte die Merkkraft dafür, als wäre sein Gehirn vollständig besetzt (bewohnt, hätte Hoffi gesagt) vom Geräusch der Assel und ihrer Tauchfahrt durch die Nacht, unfassbare Mengen an Details, die alles blockierten… (358).

Carl spürte, dass sie etwas in ihm sah, aber er wusste nicht, was. Nur, dass es gut war (361).

Seltsam, das hatte Effi gesagt, die dem Leben doch immer recht gab, wie es war, und niemals Missgunst zeigte (385).

Die kühle Luft und der Weg am Morgen machten den Kopf frei, er kam in Gang, und der Tag begann mit jenem guten Gefühl, ein nicht hinterfragbares Recht zu besitzen, auf dieser Welt zu sein (412).

Carl, der zuerst begriff, wie die Szene weitergehen musste, …, und auch ohne, dass er den Kopf hob, spürte er die Anerkennung. Da war jemand, der die Arbeit sah, „gesehene Arbeit“, hätte Carls Vater gesagt (419).

Er sortierte die Dinge, die jetzt bedacht werden mussten (426).

Das ganze Leben hatte plötzlich die richtige Richtung (427).

Bin wie ein Kind, dachte Carl, Kind ohne Licht im Fenster (429).

Vom Tod ihrer Mutter hatte Effi nie gesprochen. Für Carl ein Zeichen, lieber zu schweigen. Nicht aus Rücksicht, es war nur die alltägliche Feigheit, die man kaum spürte, weil sie normal war (430).

In seinen Gednaken war es jetzt taghell, reines, starkes Bewusstsein, wie nach einer Überdosis, so stellte Carl es sich vor (431).

… Unterdrückung bestimmter Reflexe, die das Vakuum zwischen zwei Liebenden in Krisen automatisch hervorruft (der natürliche Wunsch nach Versöhnung und Gemeinsamkeit) (433).

Schon als Kind war ich doch gern allein, dachte Carl (435).

Es erinnerte Carl ein wenig an früher, wenn ihm von seiner Großmutter etwas zugesteckt worden war. (…) Ja, er hatte damit gerechnet, sich dann aber immer ehrlich gefreut (443).

„Das ist mein eigenes Zimmer. Wenn du willst – ich schenk es dir (460).“

Aus: Lutz Seiler, a.a.O. (siehe Artikel zuvor).