Bravo Barthes!

Ozaaufnäher von S.E. für mich, Dez.22.

Roland Barthes: Wieviel Lektüren? (1970)

[…]

Eine wiederholte Lektüre – eine Operation, die den kommerziellen und ideologischen Gewohnheiten unserer Gesellschaft zuwiderläuft, die es gerade nahelegt, die Geschichte „wegzuwerfen“, sobald sie konsumiert („verschlungen“) worden ist, damit man dann zu einer anderen Geschichte greifen, ein anderes Buch kaufen könne, und die nur bei bestimmten Randgruppen von Lesern toleriert wird (Kinder, Greise und Lehrer), wird hier gleich zu Beginn vorgeschlagen, denn sie allein bewahrt den Text vor Wiederholung (wer es vernachlässigt, wiederholt zu lesen, ergibt sich dem Zwang, überall die gleiche Geschichte zu lesen), vervielfältigt ihn in seiner Verschiedenheit und in seinem Pluralen: sie reißt ihn aus seiner inneren Chronologie („dies hier geschieht vorher oder nachher“) und findet eine mythische Zeit wieder (ohne vorher und nachher). Sie bestreitet die Anmaßung, die uns einreden will, daß die erste Lektüre eine erste, naive, phänomenale ist, die man nur danach zu „erklären“, zu intellektualisieren habe (als ob es einen Beginn der Lektüre gäbe, als ob alles nicht schon gelesen wäre: es gibt keine erste Lektüre, auch wenn der Text alles tut, uns in einer solchen Illusion durch einige Operatoren der Spannung, mehr spektakulärer als überzeugender Kunstgriffe, zu verfangen); sie ist keine Konsumierung mehr, sondern Spiel (jenes Spiel, das Wiederkehr des Verschiedenen ist). Liest man also den Text sofort von neuem – ein gewollter Widerspruch in der Benennung –, so soll damit, wie unter der Wirkung einer Droge (die des Neubeginns, der Differenz), nicht der „wahre“, sondern der plurale Text erreicht werden: immergleich und neu.

(R. Barthes: S/Z. FaM 1976, S. 20f.)

von P. per Mail, 23.1.23.