Zum Foto: Eines der Lieblingsbücher meiner Mutter, das auf ihrem Nachttisch lag.
Meine Mutter war eine sehr zärtliche Mutter („andukchen“) und sehr humorvoll, bis zuletzt.
Für mich gibt es verschiedene Mutter“versionen“: die vor und die nach ihrer Pensionierung als Lehrerin. Vorher: „Meine Nerven!“, heilige Mittagsstunde, streng, autoritär. Nachher: vollkommen gelassen, „Dat is dor anto!“ (Plattdeutsch für „Das macht nichts.“), gütig.
Die Sorge um P. und die Trauer um meinen Vater waren immer da, offensichtlich oder unterschwellig. Belastend für mich als Tochter war die Tatsache, dass sie allein lebte, nur mich und meinen Bruder hatte. Sie „klammerte“ lange Zeit, war sich dessen bewusst.
Ihr Leben lang erzählte sie „von früher“, Kraftquell und Eskapismus gleichermaßen. Beides galt auch für ihre Leseleidenschaft. Sie „verschwand“ regelrecht in Büchern und Geschichten.
Die große Liebe ihrer geliebten Eltern wärmte und stärkte sie bis zum Schluss. Eine Episode, die sie am Ende ihres Lebens besonders oft wiederholte: „Opa kam nach Hause, schaute zur Tür herein, fragte mich und (?): „Ist niemand da?“ „Mutter ist bei Tant‘ Annie.“ „Ich hol‘ sie ab.“ Und weg war er.“
Ihr gütiger Vater, „Mienchen, mein Kind. Liebling oft, immer nicht!“, der einen Hexenschuss bekam („Wink von Gott!“), als er den ältesten Sohn R. im Auftrag seiner resuluteren Gattin über‘s Knie legen sollte. Ihre schöne, immer tätige, von allen verehrte Mutter mit ihren 7 Kindern: „Man hört euch bis Dupre´e!“
Am Gymnasium wurde sie als eine von zwei Mädchen in einer reinen Jungsklasse umschwärmt: „Mienchen, zeig‘ mal deine Grübchen!“
Als junge Frau fuhr sie mit Opas Mottorrad, inklusive Beiwagen zu rasant um die Kurve und rammte eine Mauer.
An der Uni in Göttingen wurde sie zur schnellsten Läuferin gekürt. Später hieß es in ihrer Zeit als Lehrerin in I.: „To, Fräulein O., lat us tegennanner loopen!“
In der Schweiz lenkte sie Pferd Franz samt Fuhrwagen. Die Liebe zur Schweiz und den Bergen blieb, obwohl sie damals so starkes Heimweh hatte.
Als mein Vater 1968 aus der DDR floh, aus Liebe zu ihr, war sie Fluchthelferin mit verschieden farbenen Socken als Erkennungszeichen in West-Berlin.
Meine Mutter liebte Blumen, „Meine geliebten Rosen!“, „So schön wie Salomonis Seide!“ (Ausspruch von K. im Alter von 4 Jahren), Vögel, Tee und Kuchen, später Puttjebree, ein Frühstücksei, Wäsche zum Trocknen im Garten an die Leine hängen, so lange sie es noch konnte, Bücher von Keller, Fontane, Dickens etc. „Zum Glück kann ich noch lesen!“, sagte sie noch bis vor Kurzem; Bilder von Van Gogh, Chagall, Kollwitz, Modersohn-Becker, bis ins hohe Alter die „Morgenandacht“ im Radio hören und Fernsehgottesdienste mit schöner Musik.
Unzählige plattdeutsche oder erfundene Ausdrücke von ihr sind in den Sprachgebrauch von mir, T., K. und J. übergegangen:
vermuffelt, vermuffeln (etwas verlegt haben, verlegen), vanabruken (jmd. aus Spaß anschwindeln), es drock haben (viel zu tun haben), Dingeräßi (Gegenstand, für das man den Namen nicht parat hat), Ausrufe bei Erstaunen, Verwunderung, Verärgerung: Herrijegett ne, Oh Gommels ne (nach unserem Vorfahren Röttger Gommels), Samuel und Pumuchekskopp („Fluch“ von Opa).
Ebenso zahlreiche Kosenamen klingen uns im Ohr: Vaderke, Junki, Hartenskralloog, Mauderke, Muleknu, die sie P. und mir und ihren Enkelkindern K. und J. gleichermaßen gab.
Das Haus in Ostfriesland ist für meine Kinder ein zweites Zuhause. Ihre geliebte Oma Mine haben sie dort zum Glück noch lange erleben und jeden Ferien besuchen dürfen. Auch für meinen Mann T., ihren „geliebten Schwiegersohn“ war es immer ein Refugium und eng mit seiner Liebe zu W. verbunden.
Meine Mutter hingegen „übersprang“ am Ende ihr geliebtes Haus in H. in ihrer Erinnerung, war wieder im Ihlower Wald, den sie sich überall, wo sie Bäume sah, herbeiwünschen konnte.
Dankbar war sie für all die Liebe, die sie erfahren hat. „Was hab‘ ich‘s gut!“ Das Schwere schob sie weg.
Sie sagte oft nach Telefonaten oder Besuchen: „Ich muss nun Nachbesinnung halten!“, „Ich hab‘s so drock zu beten für alle! Ich muss ganz nach Australien (zu ihrer Cousine U.)!“ und immer: „Leb‘ wohl!“ und später: „Ich bin din, du bist min, verloren is das Schlüsselin, du sollst immer drinne sin.“, Zeilen aus einem der mittelhochdeutschen Gedichte, das mein Vater ihr zu Beginn ihrer Liebe aufgeschrieben hatte.
Und immer wieder: „Die Liebe bleibt!“