„When too perfect…“

Zum Foto: Vegane Geburtstagstorte für meine Tochter K., 15, 17.5.22. Sieht hier aus wie eine Riesenpraline und schmeckte auch so köstlich.

Einmal im Auto, als wir auf dem Nachhauseweg waren, sagte mein Bruder, dass nichts von alledem taugte, um daraus einen Roman zu machen, jetzt, da wir wüssten, dass der Onkel nicht einmal sterben werde, denn man schreibt keinen Roman mit Geschichten über vage Erinnerungen an Krankenhäuser, über den Tod von Kaninchen oder den Preis von Lauch und Karotten und auch nicht über Anekdoten aus einer heruntergekommenen Kneipe, behauptete mein Bruder (1).

Und doch schreibe ich – unter anderem darüber, was ich kann und was ich nicht kann.

Was ich kann:

– über 4 Stunden Autofahren am Stück aus Liebe;

– Albtraumzugfahrt aus Liebe überstehen;

– ein Zitat in einer mehrbändigen Proustausgabe finden, das der Bruder am Telefon nur vage beschrieben hatte;

– mich trauen, in einer Buchhandlung die Schwärmerei zweier KundInnen über die wunderbare Fülle von Büchern mit „Es gibt aber auch viel Schrott!“ zu kommentieren;

– mich trauen, zu jmd., der mich unberechtigterweise in der Öffentlichkeit anherrschte, „Verzeihen Sie meine Freundlichkeit!“ zu sagen;

– „Vergiftungsversuch“ eines Galeriebesuchers bei IKK durch üble Rede mithilfe souveränen Argumentierens verhindern;

– provisorisch renovieren mithilfe von Papier;

– bei Badüberschwemmung durch das von J. unbeabsichtigt herausgefundene physikalische Prinzip der Verdrängung die Badezimmertür wieder zumachen, 5x tief ein- und ausatmen und in aller Seelenruhe aufwischen und den kleinen Sohn beruhigen;

– bei 100% Regenwahrscheinlichkeit mit dem Tandem losradeln, um J. von der Schule abzuholen, klitschnass werden und mich lebendig fühlen;

– intensiv intuitiv träumen…

Was ich nicht kann:

– Ostergeschenke im Garten verstecken und „Das-nicht-finden“ aushalten.

– Zwei Ostereier im Garten, die ich selbst versteckt hatte, wiederfinden;

– wenn jmd. beim Brötchenkauf am Samstagmorgen freundlich zu mir ist, nicht beinahe zu Tränen gerührt zu sein;

– wenn jmd. beim Brötchenkauf am Samstagmorgen unfreundlich zu mir ist, nicht beinahe vor Empfindsamkeit zu weinen;

– Gespräche zu viert führen, bei dem jeweils zwei miteinander gleichzeitig Unterschiedliches sprechen;

– rechnen u.ä., wenn jmd. dabei steht;

– 20 Euro – einen Anteil meines Bilderverkaufs -„vermuffeln“, d.h. verbaseln, d.h. verlegen, verlieren und dies ad acta legen;

– „etwas ziehen lassen“, was nicht in meiner alleinigen Verantwortung liegt…

1: Aus: Vom Onkel. Von Rebecca Gisler, Zürich 2022., S. 104. Gelesen um Ostern '22.