Gespeicherter Augenblick

Zum Foto: Aus dem Familienalbum.

Am 4. Mai 1771
(…) Ich will, lieber Freund, ich verspreche dirs, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich’s immer getan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß, Du hast recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß, warum sie so gemacht sind – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigen, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.
(…) Und ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, daß Mißverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen als List und Bosheit .
(…) Übrigens befinde ich mich hier gar wohl, die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend,…
Die Stadt selbst ist unangenehm, (…).
(1)

Am 10. Mai
(…) Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen wie geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. (…) Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.
(2)

1: Aus: Johann Wolfgang von Goethe, Werke 2. Band, Die Leiden des jungen Werther, Frankfurt a.M., 6. Aufl. 1989, S. 7-8. K. sollte den "Werther" während der Herbstferien lesen. Auch ich nahm ihn mir daher vor und werde vermutlich noch mehrfach aus ihm zitieren.

2: ebd., S.9.