Spuren hinterlassen

o.T., Collage (Raum: Gregor Schneider, Eichhorn: Maurizio Cattelan, Oma: film still von Tacita Dean), Kohle, Kreide, 2006. Meine Fingerabdrücke sind zu sehen.

Passagen aus: Jacques Derrida, Leben ist Überleben, Wien 2005:

„Leben, kann man das lernen? Kann man das lehren? Kann man durch Disziplin oder durch Lernen, durch Erfahrung oder durch Experimentieren lernen (oder lehren), das Leben zu akzeptieren, ja mehr noch: zu bejahen? „(S. 30)

„Wissen Sie, zu leben lernen (oder lehren) ist immer etwas Narzißtisches (…): Man möchte so viel wie möglich leben, man möchte sich retten, möchte fortdauern und all die Dinge kultivieren, die, obwohl unendlich größer und mächtiger als man selbst, dennoch ein Teil dieses kleinen „Ich“ sind, das sie auf allen Seiten übersteigen. Mich aufzufordern, auf etwas zu verzichten, was mich geformt hat, was ich derart geliebt habe, bedeutet, mich aufzufordern, zu sterben. In dieser Treue liegt eine Art Selbsterhaltungstrieb. Auf eine Schwierigkeit der Formulierung, auf eine Falte, ein Paradox, einen zusätzlichen Widerspruch zu verzichten, weil das nicht verstanden würde oder vielmehr weil dieser oder jener Journalist, der nicht zu lesen weiß, …, zu verstehen glaubt, daß der Leser oder Zuhörer genausowenig verstehen wird und daß die Quote oder sein Broterwerb darunter leiden würden – das ist für mich unerträgliche Obszönität. Das ist, als würde man mich auffordern, mich zu fügen, mich zu unterwerfen – oder an Dummheit zu sterben.“ (S. 37/38)

„Wenn ich mein Schreiben und meine Schrift erfunden hätte, dann in Form einer unendlichen Revolution. Man muss …, den unterstellten oder ersehnten Empfänger in Rechnung stellen; gleichzeitig gilt es zu behaupten, daß diese Schrift den Leser determinieren wird, der lernen wird zu lesen (zu „leben“), was er von anderswoher nicht zu empfangen gewohnt war… Nun kann ich aber … nicht anders, als eine Spur in dem Moment, da ich sie hinterlasse, für jeden beliebig verfügbar zu machen … Man weiß nicht, zu wem man spricht, man erfindet und erschafft Schattenbilder, doch im Grunde gehört das nicht mehr uns. Ob mündlich oder schriftlich, all diese Gesten verlassen uns, sie machen sich daran, unabhängig von uns zu agieren. Wie Maschinen, im besten Fall wie Marionetten (…). In dem Moment, in dem ich „mein“ Buch loslasse (veröffentlichen lasse) – niemand zwingt mich dazu -, werde ich in einem Prozess des Erscheinens und Verschwindens gleichsam zu jenem unerziehbaren Gespenst…“ (S. 39/40)

„Wenn ich jetzt sterben sollte, habe ich bereits Spuren hinterlassen.“, sagte ich vor einiger Zeit fröhlich-kraftvoll zu meiner Mutter am Telefon. Ich meinte dies in einem ganz und gar positiven, etwas bewirkenden Sinne. Der Film, den T. und ich gestern Abend sahen und der Traum, den ich des nachts träumte, brachten mir diese Aussage wieder in Erinnerung. Der Film Wild (USA 20014, Jean-Marc Vallée) basiert auf der Autobiographie von Cheryl Strayed, die nach dem Krebstod ihrer erst 45 Jahre alten Mutter drei Monate lang fast zweitausend Kilometer allein den Pacific Crest Trail entlang wandert. Während dieses Trips erkennt sie, was ihre Mutter, die von ihrem Mann misshandelt wurde, jedoch immer versuchte, den Blick auf das Positive zu lenken, ihr für das Leben mitgeben wollte.

Im Traum weine ich in den Armen einer Freundin über die Unbeschwertheit, die in meinem Leben fehlt. „Ich möchte gerne an mehrere Leben glauben, doch noch tue ich’s nicht.“ Ich zitiere im Traum K., die „in echt“ im Alter von vier Jahren auf die Frage, woher sie wohl käme, antwortete: „Aus dem tiefen Wasser.“ (eine hinduistische Glaubenstradition, abgefahren!). Ich bewundere innerhalb einer großen Gruppe die gezeichneten und gemalten Bilder einer Frau. Bemerke die stilistische Vielfalt und eine Nähe in Farbigkeit und Ausdruck. Auch entziffere ich Worte und Zitate, die auch für mich bedeutsam sind (in diesem Fall stammten sie von Henry Miller, von dem ich bisher noch nichts gelesen habe ;-)).

Blicke ich auf mein Leben, so möchte ich weder den Selbstmord meines Vaters als Option sehen, noch die Aussage meiner Mutter, dass das Leben in erster Linie schwer und leidvoll sei (eine andere Aussage, die sie zum Glück seit einigen Jahren ehrlich empfindet, lautet, wie dankbar sie auf ihr Leben zurückblickt, auf all die Menschen, die ihr mit Liebe begegnet sind, wie reich sie durch diese Begegnungen beschenkt wurde).

Blicke ich auf mein Leben, so sehe ich an erster Stelle meine Kinder, denen ich hoffentlich Wahrhaftigkeit als Größe im Leben vermitteln kann. Ich habe mit behinderten Kindern und Jugendlichen gearbeitet und habe sie „mit dem Herzen gesehen“. Ich habe inmitten des starren Schulsystems für kurze Zeit die gesellschaftliche und politische Dimension von Kunst vermittelt, in kleinem Maße Subversion betrieben, Wunschproduktionen in Gang gesetzt.  Ich habe SchülerInnen die S-Schreibung beigebracht (das/dass) ;-), versucht, ihnen den Fair-Trade-Gedanken nahezubringen. Einem Hauptschüler polnischer Herkunft, der kein Wort Deutsch sprach, erlangte durch meine intuitive, mit vielen Gesten und Zeichnungen gespickte Vermittlung einen Grundwortschatz. SchülerInnen deutsch-russischer Herkunft erweiterten durch meinen Nachhilfeunterricht ihre Sprachkenntnisse (bessere Noten in ihrem jeweiligen Deutschunterricht bekamen allerdings nicht alle – fuck the system!). Ich habe für alleinerziehende, hartz-IV-empfangende Mütter die sokratische Kunst der Hebamme betrieben und aus ihnen großartige Zeichnungen herausgeholt – mein schönster Job bisher. Nicht zu vergessen: mein aktueller Zeichenkurs mit geflüchteten Jugendlichen! Ich habe eine Galerie mitgegründet, die abseits des Mainstreams und des Gefälligen Kunst verbreitet, vermittelt und produziert. Ich trete mit meinem, diesem Blog, der kommenden Ausstellung, dem „kurz-vor-der-Veröffentlichung-stehenden“ Kinderbüchlein mit „Randthemen“ bzw. „Vermeidungsthemen“ wie HSP und Depression hinaus in die Welt.

Anm.: Ich vergaß: OZA (1) hat auch schon Spuren hinterlassen und sich auf Postkarten, Buttons, Aufklebern, Aufnähern und in einem Buch zur Kunstvermittlung (2) aufgemacht, die Welt zu erobern ;-)!

1: in diversen Artikeln erwähnt u gezeigt.

2: Eva Sturm: "Von Kunst aus-bilden". In: "Bilden mit Kunst", Hrsg. Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen, Bielefeld 2004, S. 135-147.