Portrait einer Kartoffel, 15.4.18. Im Zeitmagazin las ich einen bemerkenswerten Artikel "Über die Intelligenz der Pflanzen" (22.3.18), der mich an eine Pflanzenerfahrung in meiner Kindheit erinnerte: ich hatte Kasperlpuppen mit Köpfen aus Kartoffeln gebastelt und diese in einem alten Schränkchen gelagert, dessen Türen nicht mehr recht schlossen. Nach längerer Zeit der Nichtbeachtung wollte ich meine liebliche Prinzessin und ihren schmucken Prinzen zum Spielen hervorholen und erschrak gewaltig als ich eine Riesenspinne mit tentakelgleichen, langen Beinen im Dunkel des Schrankes erblickte. Der Schrecken blieb als ich erkannte, dass meine Kartoffelpuppen mutiert waren. Lange Luftwurzeln wuchsen zum Licht. Faszinierend fand' ich's erst später.
„Ist Ihnen klar, Mr. Stevens, wieviel es für mich bedeutet hätte, wenn es Ihnen vor einem Jahr in den Sinn gekommen wäre, Ihre Gefühle mit mir zu teilen? … Warum, Mr. Stevens, warum, warum, warum müssen Sie sich nur immer so verstellen?“ Ich lachte abermals über die lächerliche Wendung, die das Gespräch plötzlich genommen hatte. „Also wirklich, Miss Kenton“, sagte ich, „ich fürchte, ich weiß nicht, was Sie meinen. Verstellen? Also wirklich…“(Ishiguro, ebd., S. 181).
In dem bereits in einem Artikel erwähnten Roman Was vom Tage übrig blieb von Kazuo Ishiguro (vgl. 19.1.18 ) begegnet die Hauptfigur Stevens, der seine Rolle als Butler nie hinterfragt, sich seiner selbst hinter dieser Rolle nie wirklich bewusst war und „der nie auch nur geahnt hat, dass er liebte“ (Klappentext ebd.) am Ende einem anderen Butler, dem er sich im Laufe des Gespräches zu erkennen gibt. Dieser reagiert positiv: Nur gut, dass Sie mir das rechtzeitig gesagt haben, ehe ich mich richtig lächerlich machen konnte. Da sieht man mal wieder, dass man nie weiß, mit wem man es zu tun bekommt, wenn man einen wildfremden Menschen anspricht (ebd. S. 283). Mit einem vermeintlich bekannten Menschen kann es einem jedoch ebenso ergehen…
„Man muss sich Dinge erzählen, man muss sich zeigen“, sagt Karim. „Sonst wird man nicht erkannt. Aber die Leute, nie Zeit, immer in Eile. Jetzt zum Büro, dann einkaufen und dann noch dies und noch das. Immer schaffen, schaffen, schaffen. Wofür? Mach doch lieber abends mal ’ne Dose Ravioli auf, aber nimm dir Zeit fürs Reden.“ (ZEIT, 10/17).
Lernt euch kennen, haltet zusammen, und grenzt niemanden aus!“ (ZEIT Nr.12, 15.3.18). Johnny holte tief Luft und nahm seinen Mut zusammen. Dann machte er den Mund auf und fand die Worte, die die Menschen vor der ewigen, sinnlosen Gewalt bewahren könnten, wenn die Menschen sie nur ab und zu sagen und meinen würden. Johnny sagte: >Ich bin froh, dass ich euch kenne!< (1).
Wozu es führen kann, wenn man/frau über sein Inneres schweigt, sich nicht zu erkennen gibt, zeigt der französische Film „Poliezei“ (2010, Maïwenn), den T. und ich am vergangenen Wochenende in der Arte-Mediathek sahen: am Ende springt eine Polizistin des Jugendschutzes, nach Außen tough, innerlich äußerst labil, aus dem Fenster.
Aus einem Interview mit der Performancekünstlerin Marina Abramoviç (ZEIT Nr. 43, 13.10.17): „Warum weinten so viele Leute, die vor ihnen Platz nahmen und sie anschauten?“ Abramoviç: „Weil so viele Leute einsam und unglücklich sind. Sie versuchen das mit allem, was sie haben, zu überdecken. Dann, wenn andere sie anschauen, gehen sie nach innen und finden – ihre Trauer.“
„Glück? Nein danke!“ lässt Slavoj Žižek ironisch verlauten (Zeit Nr. 15, S. 43). „Wahrheit und Glück passen nicht zusammen – die Wahrheit ist schmerzlich, sie bringt Instabilität, sie stört den Ablauf unseres alltäglichen Lebens. Wir haben die Wahl: wollen wir glücklich manipuliert werden oder uns den Risiken authentischer Kreativität aussetzen?“
Aus einem Interview mit dem Schauspieler Ethan Hawke (ZEIT-Magazin 03/18): „Er ist geradezu gnadenlos offen und reflektiert. „Ich habe mir vor langer Zeit vorgenommen, ehrlich zu sein, wenn mich jemand etwas fragt. Statt dumme Unterhaltungen zu führen, kann man die Gelegenheit auch nutzen, etwas Substanzielles zu sagen.“
In diesem Sinne möchte auch ich meinen Teil zur Schaffung einer besseren Welt beitragen, zumindest versuchen, „einen kleinen Beitrag von echtem Wert zu leisten“, lobenswert, nicht wahr? (2).
Zum Titel: "Auf die Ehrlichkeit!", sagte T. versöhnlich nach einer verbalen Eskalation am Abendbrotstisch zwischen ihm als Mann und mir als Frau, die aufgrund einer Äußerung meinerseits erfolgt war. Ich fügte hinzu: "Auf die Ehrlichkeit, ja, aber mit Rücksichtnahme!" Die letztere ließ ich bisher vor allem gegenüber meiner Mutter walten, auf dass ihr Leben nicht noch schmerzlicher werde... Dabei war sie es, die zum Abschied unseres Osterbesuches sagte: "Wir müssen ja miteinander sprechen und nicht alles in Dosen verschließen!" 1: aus: Mark Twain/Philip Stead/Erin Stead: Das Verschwinden des Prinzen Oleomargarine, 2018 (Originalmanuskript von 1879), in: ZEIT, a.a.O. 2: Vgl. Ishiguro, ebd., S. 225 Mitte und S. 287.