Johansen

Foto vom 23.3.23.

Hanna Johansen: Bilder. Geschichten vom Sehen (2022)

Rembrandt Harmenszoon van Rijn

Zwei Selbstbildnisse

Oft gehe ich in einer fremden Stadt, wenn ich vom Ungewohnten ermüdet oder ratlos bin, ins Kunstmuseum. Mir fehlt der Schutz von Alltagsgewohnheiten, wenn die Arbeit am Abend stattfindet und der Tag frei ist. Manchmal erwarte ich, im Museum etwas Neues zu entdecken, manchmal hoffe ich, etwas, das andere längst zu kennen behaupten, endlich auch mit eigenen Augen zu sehen. Und manchmal will ich, vom Ungewohnten erschöpft, bloß etwas finden, das Dingen ähnlich ist, die ich schon kenne, etwas Vertrautes, das mich bestätigt, statt mich zu verwirren.

So lasse ich mir die Gelegenheit entgehen, eine Stadt mit ihren steinernen Burgen und Plätzen und Höfen zu durchstreifen und zu entdecken, wie es üblich ist. Mir fehlt die Art von Zuversicht, die man dafür braucht. Sie fehlt mir wirklich, und ich hatte erwartet, dass das mit dem Älterwerden anders würde, aber es blieb dabei.

Dabei bin ich nicht alt. Ich erinnere mich gut an das unbehagliche Gefühl, zu jung zu sein für das, was das Leben ausmachte. Das ging nahtlos über in die Feststellung, dass ich für dies oder das und dann für vieles schon zu alt war. Auch das ist lange her und bedeutet trotzdem nicht, dass ich nun alt bin. Ich bin irgendwo dazwischen und hoffe, dass es mir mit dem Altsein nicht eines Tages gehen wird wie mit dem Jungsein, denn wirklich zu alt möchte ich mich nicht fühlen müssen.

Dass ich nicht alt bin, sagt sich leicht. Wir müssen damit rechnen, dass andere das anders sehen, weil sie an uns nur sehen, was sichtbar ist, und uns für alt halten, vor allem dann, wenn sie jung sind. In unserm Innern dagegen ist von all den Personen, die wir bis heute gewesen sind, noch etwas übrig. Stimmen aus anderen Zeiten sind lebendig geblieben und mischen sich ein, ob es uns lieb ist oder nicht, während nach außen nur die Stimme der Gegenwart zu hören ist.

Mit all diesen Stimmen im Kopf bin ich in Wien durch das kunsthistorische Museum gegangen. Man kann Glück haben und in den abgelegeneren Sälen die Einzige sein, die sich umsieht und hier und da stehenbleibt. Niemand achtet darauf, man muss nicht fürchten, andere in der Betrachtung zu stören oder von ihnen gestört zu werden. Ich hatte noch Zeit und erwartete nichts. Als ich aus einem der Säle für das 17. Jahrhundert schon etwas müde durch eine schmale Tür in den hinteren Saal trete, sehe ich von der gegenüberliegenden Schmalseite unvermittelt die Blicke von zwei Männern so auf mich gerichtet, dass ich erschrocken stehenbleiben und diese Blicke erwidern muss.

Zwei Bildnisse, ein großes und ein kleineres, zwei Gesichter im Licht, ein junges und ein altes, umgeben von Dunklem. Das Licht auf ihren Gesichtern kommt von links, wie es auch das Licht im Saal tut. Beide sind so groß, wie es ein lebendiger Mensch wäre, wenn er dort stünde. Und beide schauen mit unerschöpflicher Ruhe und unbegreiflicher Intensität, so dass es schwerfällt, mich von einem abzuwenden, und wenn es auch nur vorübergehend wäre. Bis ich bei ihnen angekommen bin, weiß ich, dass ich zuerst den Jüngeren kennenlernen will, den auf dem größeren Bild, der die Daumen in seinen Gürtel gehängt hat und der mehr Raum lässt zwischen sich und der Welt. Mir ist, als könnte ich gewissermaßen Abstand wahren und mich im Hintergrund halten, während ich ihn ausforsche.

Nicht dass er wirklich jung wäre, in seinen Vierzigern wird er wohl sein, aber sein Gesicht enthält noch alles, was ich brauche, um zu wissen, wie er mit zwanzig war und wie mit dreißig, wie er gelernt und beobachtet und geplant hat, während er mich ansieht, als könnte ihm, was das Schauen betrifft, niemand mehr etwas vormachen. Er steht zwar so da, schwach beleuchtet, aufrecht und die Daumen eingehängt in seinen Gürtel, als sei er bereit, sich betrachten zu lassen, aber nicht ohne dass die Betrachterin sich fragt, ob sie ausreichend gerüstet ist für diese Betrachtung. Ich weiß zu wenig. Das kenne ich schon. Ich weiß meistens zu wenig. Zwar ließe sich das, was andere über Rembrandt wissen, leicht nachschlagen, aber ich bin in einem Museumssaal und stehe vor einem Bild und weiß, dass ich zu wenig weiß und nie genug wissen werde, und der Mann auf dem Bild weiß es auch.

Nicht unfreundlich sieht er zu mir her, eher mit Vorsicht und im Bewusstsein dessen, was er kann. Da kann ich nur zustimmen. Das ist etwas vom wenigen, was ich über Rembrandt weiß. Es ist auch der Grund dafür, dass ich hier keine Überraschung erwartet habe: ich weiß, dass seine Bilder hervorragend sind und dass sie mir gefallen. Und der Mann auf dem Bild weiß, dass ich das weiß.

Er kann mich nicht hergerufen haben, um mir das mitzuteilen.

Um seine Augen welkt ihm die Haut. Auch seine Kinnlinie löst sich schon auf, was mich bei einem Menschen, der viel und für sich allein vertieft arbeitet, nicht wundert. Die senkrechte Falte zwischen den Augen dagegen spricht nicht vom Alter, sondern von Jugend, von Tatkraft, von Selbstbewusstsein und dem Beharren auf Genauigkeit. Das war es wohl, was mich hergezogen hat von der andern Seite des Saals, das war es, was ich genauer kennenlernen wollte, dieses Leben, diese Jugend, diese Schönheit in einem Mann, der nicht schön ist, der bereits gelebt und sich seine Aufmerksamkeit aufs Leben dabei bewahrt hat. Die Nase schon aus der Fasson, die Lippen dagegen, von den Jahrzehnten nicht angegriffen, sind voll, von verlockender Feinheit und mit einem unmerklichen Lächeln, als wollte er zeigen, dass er bereit ist zu warten. Und als baute er darauf, dass er nicht umsonst warten muss.

Dass dieses Lächeln nicht so einfach ist, bekommst du zu spüren, wenn du dich vor ihn hinstellst und mit dem Ausforschen beginnst. Dann gleicht es eher der Aufforderung, einen Schritt zurückzutreten.

Damit nicht genug. Er verändert sich abermals, wenn du bereit bist zu gehen, wenn du dich abwenden willst, um den andern anzusehen, den alten Mann, ein Stück weiter rechts. Mit Abschiedsgedanken im Kopf bist du zurückgetreten, wendest schon den Kopf, schaust aber zurück, weil sich sein Lächeln verändert hat. Fort ist es.

Nun sieht er dich an, als hätte er es immer gewusst, sein Blick und die Falte dazwischen sprechen vom Wunsch, den Kopf zu schütteln über eine Person wie dich, die zu meinen gewagt hat, er lächle. Er tritt einen halben Schritt weiter zurück in den Schatten, vielleicht, hält deinen Blick aber fest und lächelt nicht. Die Falte zwischen den Augen tritt stärker hervor, überhandzunehmen scheint sie und den letzten Rest von Freundlichkeit, der sich ihr nicht unterwerfen will, Lügen zu strafen.

Du gehst trotzdem weiter.

Er lässt sich, den Blick unbeirrt auf dich gerichtet, nichts anmerken.

Der andere Mann ist derselbe, auch Rembrandt, nun alt und ein ganz anderer. Er hat auch viel weniger Raum um sich herum als in jüngeren Jahren, hat sich, so könnte man sagen, mit weniger Dunkel umgeben, füllt mit seinem Kopf das Bild weitgehend aus, ganz nah vor mir, und besorgt das Zurücktreten durch ein leichtes Nachgeben des Nackens, ein Zurücknehmen des Blicks, unmerklich.

Auf dem Kopf hat er das gleiche weiche dunkle Ding wie früher, barettartig und immer im Schatten, nun reicht es bis fast an den Bildrand. Auch eine ganz ähnliche Jacke wie damals trägt er, aus dickem, glanzlosem Stoff, kein Luxus, keine Verkleidung, ein einfacher Malerkittel, nun etwas straffer im Sitz, auch korrekter geschlossen, am Hals wieder nur wenig Weiß und die Ärmel gekraust. Ob er den Gürtel noch trägt, sehen wir nicht, das Bild reicht nicht so weit. Aber dass er die Daumen in seinen Gürtel hängt, kann ich mir bei diesem Mann nicht vorstellen. Das ist vorbei.

Die Augen haben einen neuen Platz in diesem Gesicht eingenommen, sind auf die Nasenwurzel hin zusammengeschoben und von herzzerreißender Besorgtheit. Was ist geschehen? Das Licht kommt noch immer von links, hat sich ein wenig aufs Frontale zu gewendet, lässt also die Faltung zwischen den Augen weniger markant hervortreten, und was früher als Entschlossenheit im Bild stand, ist nun zerflossen zu einer Stirnmitte mit diffusen faltigen Verwerfungen, die den Eindruck fortgesetzter Ratlosigkeit aufkommen lassen. Die Brauenbögen verwüstet. Der feine Schwung seiner Lippen zeigt sich noch in der Mitte, verliert auf die Mundwinkel zu aber an Kraft und sinkt ein. Der deutliche Graben zur Nase hin ist jetzt verwischt. Die Aufbruchsstimmung und jugendliche Zuversicht, welche sich im Bild des jüngeren Mannes noch erhalten hatte, ist verloren. Aufgebraucht, versunken, vertrieben von etwas, das aussieht wie eine ungläubige Hoffnungslosigkeit.

Wie lange braucht ein Mann, um sich so zu verändern, frage ich mich. Das lässt sich nachsehen. Auf kleinen Schildern stehen die Daten, und die Daten besagen, dass zwischen den beiden Lebensaltern fünf Jahre liegen. Nur fünf Jahre? Ist das möglich? Was für Jahre? Ins vierte von diesen Jahren, sagt ein weiteres Schild, fällt der Bankrott des Malers. Darf das, zusammen mit den Schwierigkeiten, die einem Bankrott vorauszugehen pflegen, als zureichender Grund für so grundsätzliche Veränderungen gelten?

Wie ist es nur möglich, denke ich, dass der Mensch einen so wichtigen Teil seiner Vergangenheit aufgeben muss? Ist es denn nicht so, dass wir all die Personen, die wir einmal waren, im Innern behalten und mit uns nehmen ins zunehmende Alter? Werden wir irgendwann einverstanden sein, wenn der Mensch uns gegenüber uns bloß für das hält, was in der Gegenwart sichtbar ist, also für alt? Es heißt, man könne auf liebenswürdige und würdige Art alt sein, und wenn es eines Beweises bedürfte, dann habe ich ihn in diesem Saal vor mir. Dies ist ein alter Mann, der mir gefällt, und wenn ich wünschen könnte, würde ich gern auf diese Art alt werden.

Denn sein Gesicht hat nicht nur etwas verloren. Es ist auch etwas dazugekommen, etwas, das anrührt und das zugleich aussieht, als gewähre es ihm Schutz. Fünf Jahre früher, wo er mir mit eingehängten Daumen gegenübertritt, ist das nicht zu finden. Was ist es? Du meinst, so in seinen Zügen forschend, das Kind zu erkennen, das er einmal war. Klein ist es, dieses Kind, es kann schon laufen, auch sprechen kann es, aber viel mehr nicht, und mir ist, als versuche dieses Kind durch das Gesicht des alten Mannes noch einmal einen Blick zu werfen auf diese Welt. Oder ist es der Alte, der sich hinter dem Kind vor einer Welt zu verbergen sucht, der er nicht mehr zustimmen möchte?

Wie alt mag er sein? Das ist leicht auszurechnen, das Schild sagt es: gemalt wurde das Bild im Jahre 1657, und wenn einer 1606 geboren ist, zeigt es ihn im Alter von einundfünfzig Jahren. Einundfünfzig. Von diesem Augenblick an muss ich ihn ansehen wie einen Menschen, der jünger ist als ich, ganze fünf Jahre.

Lange bin ich stehengeblieben und konnte es nicht begreifen.

(Hanna Johansen: Bilder. Geschichten vom Sehen. Zürich 2022, S. 9-18.)

von P. per mail, 23.2.23.