blutbuch

Foto vom 23.1.23.

Kim De L’Horizon widmete das blutbuch (Deutscher Buchpreis 2022) seiner Mutter (Meere), die den Stammbaum ihrer dementen Mutter schrieb, über zweihundert Seiten, beginnend im 14. Jahrhundert. Ich (Kim) wurde immer fassungsloser. Ich kann nicht glauben, dass Meer, meine Meer,…, das geschrieben hat (1). Wenn du (Großmeer) wüsstest, was Meer für einen Aufwand betrieben hat… (2).
… wir setzen uns an den Tisch, der überfüllt ist mit Ordnern, Rechnungen und Zetteln (3). Neben der Kiste „Hexen etc. Bildmaterial“ fand ich noch einen Ordner mit „Frauen in der Schweiz/ Textmaterial“. Ich schnappte mir diesen und den grauen „Stammbaum“-Ordner und kopierte beide im Copyshop um die Ecke. Beim Kopieren verschaffte ich mir einen kurzen Einblick und begann zu erahnen, was Meer da geschrieben hatte (4).

Dies kommt mir in den Sinn und das schlechte Gewissen, das Wissen, dass sie gerne studiert hätte und bis heute nicht studiert hat, dass sie mir mit ihrer schlecht bezahlten Arbeit ein Studium ermöglicht hat…
Sie wusste, wenn sie mich bekommt, kann sie die Matur nicht abschließen, die sie auf dem zweiten Bildungsweg angefangen hatte…
(5).

Später hatte sie den Wunsch, Hebamme zu weden. Immer wieder gesagt, nie gemacht. Lange Zeit fand ich, dass sie sich ja doch hätte bilden können, wenn sie wirklich gewollt hätte. Aber während ich das fand, wusste ich ja noch weniger als heute, was es heißt, Kinder zu haben (6).

Die Frau, die jahrelang recherchiert, Geschichtsbücher gewälzt und Internetforen durchforstet hat, um insgeheim einen Stammbaum anzulegen, das ist nicht die Meer, die mich aufgezogen hat, … (7).

 

T. und ich schauen gerade am Abend Tove, den Film über die Mumin-Erfinderin Tove Jansson (FI/,SE 2020, Zaida Bergroth). T.: „Ich habe einige Parallelen zu dir gesehen, keine konkreten, mehr gefühlsmäßig… Tove hat ja in ihrer Wohnung gemalt und ich habe uns von Außen betrachtet und uns als eine andere Familie vorgestellt, in der die Mutter auch eine Wohnung hat, in der sie ein paar Tage die Woche malt.
Vielleicht könnten wir ja so ein Künstlerelternpaar sein, das eben so lebt.“

Ein schöner Gedanke, der mich rührt.

1: Aus, s.o., Frankfurt a.M., Wien und Zürich 2022, S. 193.
2: ebd., S. 192.
3: S. 186.
4: S. 192.
5: S. 190.
6: S. 191.
7: S. 194.