Immer alles zuviel

Mir kam heute Morgen der Gedanke, ob die Art und Weise, wie man/frau die Zähne putzt, Rückschlüsse auf den psychischen Zustand zulassen. In meinem Fall hätte ein Zahnarzt als Psychologe fungieren und meiner bereits seit Kindertagen höchst aggressiven Stressabbauputzart Einhalt gebieten müssen. Vielleicht wäre dann schon früher meine Hochsensibilität und/oder mein Schwarzer Hund erkannt worden und ich hätte früher gelernt, damit umzugehen und Prävention zu betreiben (Hätte, hätte, Fahrradkette. – Pflegt T. zu sagen). Mein Zahnarzt hier in FL, der mir auch eine Beißschiene gegen das nächtliche Zähneknirschen anfertigte, hat nämlich vor Jahren feststellen müssen, dass ich mir mein Zahnfleisch an den unteren Zähnen so sehr runtergeschrubbt habe, dass die Zahnhälse komplett freiliegen. Einen gesunden Zahn musste er fast bis zur Hälfte wegschleifen, um ihn durch eine Krone zu stabilisieren und erhalten zu können (Sünde!, wie es in FL heißt).

Immer alles zuviel: Wenn mir früher als Kind alles zuviel war, wurde ich krank (Ohren, Blase, Nieren, Infekte). Ich hatte sehr oft Kopfschmerzen (vielleicht auch wegen meiner langen Haare) und ich schlüpfte sehr oft in die Mercutiorolle. Meine Mutter hat mich immer sichtlich genervt darauf aufmerksam gemacht, dass ich  – in ihrem Beisein noch über Mattigkeit klagend – wie ausgewechselt mit übertrieben fröhlicher Stimme auf Telefonanrufe reagierte und auf Verabredungen einging, obwohl ich allein sein wollte.

Gestern thematisierte ich während der Sitzung bei N. (1) das Immer-Zuviel. Ich: „Möchte nur meinen Geist beruhigen (2). / Das Leben ist so anstrengend – obwohl doch eigentlich alles gut ist…/ In Stille kommen die Tränen. Ich frage mich, ob die Tränen vor Erschöpfung kommen oder aus Trauer, die tiefer liegt. Zunächst offensichtlich: Erschöpfungstränen – wohlbekannt.“ N.: „Trauertränen – ein Konstrukt?“ Annahme meinerseits, dass ich vor 13 Jahren nach meinem klassischen Burnout Mercutio endgültig erkannt (noch nicht gänzlich abgelegt) habe (hatte bereits eine Idee seiner Existenz seit Kindertagen) und die so häufig aufgesetzte, übertriebene Fröhlichkeit nach und nach von häufigem Tränenfluss und Zusammenbrüchen abgelöst wurde und dass ich diese Musterablösung nachvollziehen kann.

Anmerkung: Muss nun J. vom Kindergarten abholen und hoffe, den Artikel später vollenden zu können. Without distraction...

Ca. 3 Std. später: Artikelvollendung

Eine emotionale Lüge durchzuhalten, kostet unglaublich viel Kraft. Es ist, als versuchte man, Epilepsie, einen Herzinfarkt oder Diabetes zu verheimlichen (3). 

Kostbare Momente mit N. während der Sitzung in absolutem Gewahrsein. Sehr intensiv, aber aushaltbar, da ausgewogen. Ich: „Könnte ich doch aus dieser Ruhe heraus, mit diesem Gleichmut auf mein Leben blicken…!“

Abschluss der Sitzung: Bereits zu Beginn meines Lebens permanente Systemüberforderung (manisch-depressiver Vater an der Seite meiner schwangeren  Mutter, die Angst um das Leben meines Vaters hatte und gleichzeitig fürchtete, mich zu verlieren). N.: „Du als werdender Mensch…“ Ich muss N. unterbrechen und auflachen, weil ich diese Formulierung auf das Heute beziehe und dies wunderbar finde! Ich als werdender Mensch…

Alles zuviel: Am Wochenende Besuch von R., Ts Schwester,  die ich sehr mag und mit der ich gut sein kann. Trotzdem wunderte ich mich, wie erschöpft ich war. Wahrscheinlich habe ich unbewusst doch permanent die Atmosphäre erfühlt (meine Therapeutin in der Klinik nannte mich eine Amosphärenfühlerin), damit sich R. wohl fühlt. Zudem war meine Aufmerksamkeit auch der Kinder wegen permanent geteilt.

 Alles zuviel: J. brüllt am Morgen im Bad, ich ertrage es nicht und würde mir am liebsten eine Nagelfeile in den Unterarm rammen. Sekundenspäter hat sich J. beruhigt und ich mich auch.

Alles zuviel: J. und K. streiten sich am Abend nach Rs Abfahrt, was zur Folge hat, dass J. alleine in Ks Zimmer eine Folge einer Zeichentrickserie schaut, während wir anderen zu Abend essen – was nie vorkommt! Obwohl es ruhig ist, sitzen wir drei mit hängendem Kopf da: „So wäre es, K., wärst du Einzelkind.“ Als der Kleine zu uns stößt, muss ich weinen. J.: „Mama, bist du gerührt?“

Alles zuviel: Eine Dose knackt – ich schrecke unverhältnismäßig heftig zusammen. Ein Teller klappert – wie zuvor. Der Klodeckel knallt – ebenso.

Alles zuviel: Gestern feierten wir Js Geburtstag. Obwohl er nur einen (!) Gast eingeladen hatte – seinen besten Freund – , war ich völlig überfordert und bekam im Wald, während einer kleinen, simplen Schatzsuche, beinahe einen hysterischen Lachanfall und fragte T., wie es sein kann, dass mich schon eine kurze Feier von 15:00 – 17.30 mit nur 2 (!) Kindern völlig an den Rand brachte, und wie andere Eltern das hinkriegen und wie überhaupt KindergärtnerInnen und LehrerInnen durchhalten und wie ich überhaupt jemals mit Kindern arbeiten konnte…?!

Als ich S., der Mutter von Js Freund begegne, muss ich mühsam meine Erschöpfungstränen zurückhalten. Sie reagiert sehr verständnisvoll und sagt, wir hätten doch alles gut und uns angemessen überlegt, ist aber doch irritiert (o.s.ä.), als ich meine Zweifel äußere, wie ich so in der Welt bestehen soll… Bissel unpassend der Gedanke an der Stelle, denke ich.

Abschließende Anekdote: Am Abend fragte mich K., wie alt ich war, als ich mit T. zusammen kam. Ich antwortete lässig: „Wir sind dieses Jahr 20 Jahre zusammen und ich werde 45. Also?“ K. ebenso lässig: „Mama, du wirst 44.“ Heißa, 1 Jahr gewonnen, ich werdender Mensch!

1: vgl. div. Artikel, in denen ich Sitzungen bei N. (Somatic Experience) erwähne.

2: Matthew Johnstones Buch über Meditation.

3: ders., in: Mein schwarzer Hund. Wie ich meine Depression an die Leine legte. München 2008, ohne Seitenzahl.