Aus: „Kruso“

Zum Foto: Lichtflecken auf Js Fensternetz am frühen Morgen.

Wenn Ed sich morgens aufsetzte in seinem Bett, sah er das Meer, das genügte für alles. Trotzdem trat dieses Glück nicht direkt mit ihm in Verbindung. Auf irgendeine Weise blieb es verschlossen, entweder in seiner Brust oder im Anblick des Meeres selbst…, oder es verbarg sich in der Dämmerung, die es eigentlich nicht gab,… (S. 62).

Er hegte die Vorstellung, auf irgendeine Weise zu sich zu kommen in dieser Pausenstunde, das Meer zu atmen, nachzudenken, aber er war viel zu erschöpft…
Seine Erschöpfung erinnerte ihn an seine Zeit als Lehrling auf dem Bau. An die fast vergessene Müdigkeit der jungen Jahre (wieder nannte er es so, als sei er inzwischen alt), und er fühlte etwas wie ein Heimweh nach Arbeit. Eine körperliche, wie eingeborene Sehnsucht, die beinah in Vergessenheit geraten, oder mehr noch, vollkommen verschüttet worden war. Das Studium hatte ihn konturlos und beliebig gemacht. Bei der Arbeit wurde er sich wieder ähnlich, die Arbeit führte ihn zurück in eine spürbare Ähnlichkeit. „Mühseligkeit“, summte es aus seinen Beständen, … (S. 69).

Ab und zu tauchte jenes verschämte Glück auf, das sich weigerte, direkt mit ihm in Verbindung zu treten (…).
Warum tat es so gut, so wenig zu reden?
Er hatte das nicht vorgehabt, aber dann begriff Ed, dass das Schweigen innerster Bestandteil seiner Flucht war, inzwischen nannte er es so. Er musste einfach für sich bleiben, aber er wusste auch, dass er jetzt nicht allein sein durfte…
Im Geiste hatte er es versehentlich umgekehrt formuliert und doch genauso gemeint: Ich möchte einen Platz in der Welt, der mich aus allem heraushält (S. 108).

Die Insel ist der erste Schritt, verstehst du, Ed? Die Insel ist der Ort. Hier gelingt es den meisten schon nach Stunden, die Wurzel zu berühren. Sie ist in uns hineingewachsen aus der Vorvergangenheit, nicht seit der Geburt etwa oder gerade in diesen Tagen, wie manche glauben möchten, nein, ich meine: seit Menschengedenken. Gelingt es uns, die Wurzel zu berühren, spüren wir es: Die Feiheit ist da, tief in uns, sie wohnt dort, so tief, wie unser innerstes Ich. Das ist die Feiheit, die ich meine. Sie ist das Denken des innersten Ichs, das Denken unseres Selbst in der Geschichte. Wir müssen nichts anderes tun, als dieses Denken zu wecken. Oft ist es gefangen in einer Ohnmacht. Es gibt alle möglichen Formen der Gefangenschaft, Ed. Angst, Alpträume, Krampf, Apathie. Dazu kommen die Schlacke, immerzu Schlacke, die sich auf uns legt, solange wir leben. Ein schwerer Niederschlag von Ehrgeiz, Macht, Habgier, Besitz, rostige, giftige, aschene Schlacken. Sicher, manchmal ist die Wurzel schon faul und vertrocknet. Das sind Verlorene, Finsterlinge, aufgegebene Menschen. Aber nicht bei Ihnen, Ed. Sonst kämen sie nicht auf die Insel – sie haben die Wurzel „gespürt“ (S. 257, 58).

Jemand, der dieses Glas über den Schädel bekäme, wäre sofort oft – Ed wusste nicht, woher der Gedanke gekommen war, sofort tot (S. 268).

Dazu die Brandung, das leise, unablässige Rauschen, in das Eds Denken sich eingerollt hatte wie in einen warmen, schützenden Kokon.
Dann hörte er es. Das erste Mal. Mitten in ihm selbst wohnte der Ton. Ein eigener Ton, so gut wie ein eigenes Schicksal. Er musste ihm nur folgen … (S. 316).

Ich atmete, ein und aus, im Grunde ging es nur darum auf dieser Welt, es ging darum, regelmäßig zu atmen (S. 470).

Aus: Lutz Seiler, Kruso, 5. Auflage, Berlin 2020.