Emotionsregulation

Decalcomanie im Januar '18 von J. (5) angefertigt, Zeichnung ergänzt Anfang Mai.

Einmal hattest du in deinem Kopf so schlechte Gedanken, da hab‘ ich ’ne Bohrmaschine geholt, ’n Loch reingebohrt und dann kam das alles raus und dann hab‘ ich ’n Nagel wieder reingesteckt.“

Imagination von J. am Morgen des 24.5.18.

17.5.: Ks 11. Geburtstag (vor elf Jahren kam sie am Himmelfahrtstag auf die Welt und machte T. am Vatertag zum Vater). Wir holen drei Kaninchen von einer Züchterin ab, um die sich drei Mädchen aus dem Dorf kümmern wollen, K. ist nun also stolze Tiermitbesitzerin, besser -kümmerin.

Mail meines lieben Biokistenanbieters: „… hier kommt wieder unsere aktuelle Angebotsliste frühlingsmäßig angezwitschert, -gesummt, -gesäuselt, -geflattert und -geduftet. Gutes Aufblühen allerseits!“

18.5.: Zugfahrt mit K. nach HH. Meine Freundin J. weiß um meine Befindlichkeit und bietet mir eine Ruhepause in ihrem Refugium unter’m Dach. Entspanne mich, werde dünnhäutig(er) – bereits zuvor oftmals aufgetretenes Phänomen. K. nächtigt bei ihrer Freundin H., Js Tochter. J. „spielt Taxi“ und setzt mich liebe -und verständnisvoll (Ich: „Ich kann nur mit T. allein sein.“) vor Ms leerer Wohnung ab, in der ich nächtigen darf. Zuvor: bewegter Moment, im Laufe der Fahrt kann ich kaum mehr sprechen, bin wohl unterzuckert. Stärke mich, schlafe zehn Stunden!

19.5.: Beglückendes Wiedersehen mit meiner Freundin M. und ihrer kleinen Tochter. Wir trinken Kaffee nur mit uns und sprechen über „die stillen Künstler“. Mittagsschlaf für mich allein. Bummelei für mich allein. Getümmel der Großstadt rauscht an mir vorbei. Gemeinsam Sein mit meiner Freundin S. und feiern der Silberhochzeit von N. und O. Aufwühlende Erzählung einer Freundin Ns von der außergewöhnlichen Gabe ihrer Tochter. Türkischer Familientanz. Iron-Maiden-Gebange.

20.5. Pfingstsonntag: Berührende Gespräche mit S. („Wie gut, dass du T. hast!“), Kunstbetrachtungen in den Deichtorhallen, Rückfahrt nach FL. Eine langwierige Entzündung in meinem Mund beginnt kurz vor unserer Ankunft so sehr zu schmerzen, dass ich T. und J. nur gequält anlächeln und kaum sprechen kann. Nehme eine Tablette gegen rasende Kopfschmerzen.

21.5. Pfingstmontag: Mein 45ter Geburtstag. Vor fünfundvierzig Jahren kam ich am Geburtstag meines Vaters zur Welt. Morgens bekam er Farbtöpfe, am Abend eine Tochter. Es durchströmt mich als ich Ts Geschenk genauer studiere: Ein Buch über William Kentridge. Gewissheit: „Ich muss malen!“ Liebevolle Worte per Post und SMS (alle wissen um meine „Telefonphobie“) von Familie und Freunden. Ich „fliehe“ mit T., K. und J. aus dem Dorf – scheue ich doch seit Mercutios Ableben das „Im-Mittelpunkt-stehen“, und wir verbringen einen wunderbaren Tag in der kleinsten Stadt Deutschlands und an meinem Lieblingsplatz am Meer. Abends fliegt während eines Telfefonates ein Specht gegen die Fensterscheibe, ich bin erschüttert, fange mich, ebenso fängt sich der Vogel nach einiger Zeit, welch‘ Glück.

22.5: T. und ich sind seit 21 Jahren (!) ein Paar. Morgens halte ich seine Hand und sage: „Nur mit dir kann ich allein sein!“ (1). Mittags kommt mir ein umfassendes Gefühl abhanden: „Naz (Urdu, Substantiv, maskulin. Gefühl von Stolz und Sicherheit, das aus dem Wissen herrührt bedingungslos geliebt zu werden“ (Wortschatzkarte zu meinem Geburtstag von V. und S.). Komplexer Zusammenhang. Ein altes, negatives Gefühl hält mich brutal gefangen. Vorlauf zu bedenken: Nachwirkung des Wochenendes in der Großstadt klingt für mich als HSP länger nach, Stress wegen Überforderungs-Feiervorbereitung für K. wirkt sich aus, ich bin leicht kopflos (2), stelle mir den Ständer des schweren Tandems auf den nackten Zeh, das tut furchtbar weh. Komme blaß und leicht schwindelig am Kindergarten an, hole J. ab. Bin wohl unterzuckert. J. pinkelt in den Garten, preist zuvor die schönen Knospen der Pfingstrose, ich betone deren Zartheit, J. überreicht mir die Knospe: „Da waren Ameisen dran.“ Ich reagiere über (ebenso ein altes, vertrautes Gefühl ist schuld an meiner heftigen Reaktion) und schimpfe laut, statt besonnen zu reagieren und zu erkennen, dass J. nicht aus böser Absicht, sondern aus dem Impuls heraus handelte. Versuche stotternd und weinend T. meine Überreaktion zu erklären, stoße auf Unverständnis „keine Lust auf Befindlichkeitsanalyse“, fühle mich in meiner kompletten Person zurückgewiesen, sehe meine gesamten Bemühungen als vergeblich an („… schreibe den Blog, um alte Gefühls- und Handlungsmuster zu erkennen und aufzubrechen; schreibe und analysiere für mich, um dich nicht zu behelligen; arbeite täglich an mir…“). T. ist überfordert, ob der Heftigkeit meiner Reaktion und entzieht sich mir. Ich bin appetitlos, stimmlos, haltlos, verzweifelt, verloren… Versuch Ts: „Als ich gerade auf der Terrasse stand, war ich durchströmt von all dem Duft und Gesumm.“ Ich spüre nichts. Tinnitus tönt. Versuche, in der Kindhaltung zu mir zu kommen, gelingt nicht; versuche, mit den Fingernägeln meine Bauchdecke „aufzureißen“, gelingt nicht; versuche, zu sprechen, gelingt nicht; später gebe ich mir im Affekt eine Backpfeife, hilft nicht… Ich komme nicht raus. Der Tag ist ein verlorener Tag.

Erst zwei Tage später, nach den Erkenntnissen aus dem Skillstraining weiß ich, dass mich das sekundäre, emotionale Netz (umfasst alte, im Unterbewusstsein abgespeicherte Gefühlsmuster) komplett in seinen Fängen hielt und ich mich erst am Abend mit Ts Hilfe daraus befreien konnte.

23.5.: Ks Nachfeier mit 10 Kindern. Eine ihrer Freundinnen wird am Morgen Zeugin eines schweren Autounfalles. K. erzählt nur T. am Abend davon, mich verschont sie. Während der Feier bekommt T. eine Nachricht einer Bekannten, die unheilbar erkrankt ist. Die Feier verläuft (beinahe) stressfrei und beglückt mein Kind. Am Abend verlangt J. mit zartem Stimmchen, dass ich ihm eine Stelle aus Astrid Lindgrens Erzählung „Märit“ vorlese (T. hatte zuvor auf seinen Wunsch die ganze Erzählung gelesen) „…, die mit dem weichen Mädchenkörper“. Ich verneine verzweifelt, kann diese Geschichte nicht aushalten: „Das weißt du doch!“ J. schreit. Ich lese mit mechanischer, erstickter Stimme, J. weint: „Das ist so traurig!… Bin ich auch weich?….“ Ich halte und wiege ihn lange tröstend im Arm.

24.5.: Telefonat am Morgen mit V., die von einem Unfall ihres geliebten Mannes berichtet: „Ich dachte, er wäre tot!“ Er hatte Glück im Unglück… T. telefoniert nach langer Zeit mit unserem Freund P., der aufgrund eines tragischen Todesfalles nun alleinerziehender Vater zweier Söhne (im Alter von K.) ist. Als ich mich gerade auf den Weg zum Skillstraining machen will, klingelt es an der Tür. Ks Freundin K.: „Die Katze hat das eine Kaninchen getötet. Es liegt wahrscheinlich unter der Holzterrasse.“ Mit wackeligen Beinen gehe ich mit, wir finden es nicht. Ich fahre mit dem Rad an das andere Ende der Stadt in die Ergotherapiepraxis; es geht heute um „Emotionsregulation“ – wie passend.

1: Vgl. Artikel vom 29.8.16 "Bin ich denn innerlich nur bei mir, wenn ich allein bin?"

2: Vgl. Artikelzitat "Tick, klickerklack" zuvor.

Anm.: Ich habe diesen Artikel am 30.5. begonnen, am 5.6. weiter bearbeitet und heute endlich vollendet. Die Ausführungen zum 22.5. fielen schwer.