verschwierigt

Zum Titel: J., 7 J., 25.10.20.

Zum Bild: Schülerzeichnung vom 20.10.20, Oza von hinten, von vorne? rückwärts? durchscheinend? auf einem Motorrad on route 66. Großartig!

Am gestrigen Morgen weinte ich stressbedingt beinahe, verbrachte den Tag leicht instabil und zukunftsverzagt, nahm aber stärkende Anker wahr. Früher wäre die Instabilität stärker und vorherrschend, die Anker überdeckt gewesen („Anker“ waren in diesem Fall: mein Kunstkurs mit einer Kohorte Jugendlicher, die mir ans Herz gewachsen sind; erschöpft, aber erfüllt bin ich nach 1 1/2 Stunden; Besuch bei S. im Anschluss mit wärmenden Speisen und Gesprächen; sehr seltenes, lautes Musikhören, tanzen und mitsingen allein zu Haus, z.B. zu: „Heute ist ein guter Tag um glücklich zu sein“ ;-)).

Seit geraumer Zeit schon stelle ich immer wieder Unterschiede zwischen Früher und Heute fest. Was ich genau mit Früher meine, ist schwer einzugrenzen. Es meint wohl die Jahre der „Mercutioablegung“…
Es gibt ein Früher, in dem ich gar nicht in der Lage war, über meine Zustände zu schreiben, sie zu zeichnen (z.B. 2015 nach meinem Klinikaufenthalt).
Es gibt ein Früher, in dem ich es oft gerade so geschafft habe, von Tag zu Tag (1).
Heute (seit Corona) versuche ich, mich einmal am Tag zurückzuziehen, auf den Rücken zu legen und eine kurze Pause zu machen, shavasana-meditationsmäßig. Früher machte ich nie Pause, blieb immer auf Speedlevel (Eingrenzungen wie nie und immer versuche ich neuerdings eigentlich zu vermeiden…).
Heute nehme ich Überforderung oft eher wahr und versuche, angemessen darauf zu reagieren. Es gelingt mir nicht immer, aber besser; so z.B. am Wochenende bei einem Geburtstagsfrühstück mit fünf Frauen: bereits nach kurzer Zeit schmerzte es hinter den Ohren und im Kopf, ich schnappte frische Luft, malte mit S. und J. Muster auf Papier. Meine Muster kamen zwar vergleichsweise verkrampft daher, ich kam jedoch zur Ruhe; gute Methode.
Heute reagiere ich oft bereits intuitiv präventiv auf Überforderung, indem ich z.B. Kinderübernachtungsbesuch (zu Halloween) von vornherein ablehne.

Früher habe ich mich in Situationen von hochgradigem Stress geritzt, diesmal habe ich gezeichnet, so geschehen am 13.10., als ich nach einem Wutanfall von J. statt zur Nagelschere zu meinem Zeichenbüchlein griff -, das ich vor einem Jahr zum letzten Mal benutzt hatte (!) – und im Halbdunkel ohne Brille ein Frauenporträt von Kokoschka, was zufällig als Lesezeichen aus meiner Zettelei hervorlugte, mit energischem Strich abzeichnete. Währenddessen kam ich zur Ruhe und konnte anschließend gelassen und mit Appettit mit meinen Kindern zu Abend essen. Stolz war (und bin) ich auf mich.

Früher kam aus Mangel an Schlaf der Schwarze Hund in unterschiedlicher Größe, Heute fühle ich mich belegt oder bin hochgradig zerstreut (just auf im Nachhinein amüsante Weise verstärkt in den Herbstferien in AUR erfahren: Müll akribisch getrennt und in die falschen Tonnen gekippt; mit vielen Töpfen hantiert und wiederholt nicht besetzte Herdplatten erhitzt; vermeintlich veganes Essen gekauft, Vorfreude geschürt, tierische Zutaten überlesen; Kinder-Fernsehabend vorbereitet, Vorfreude geschürt, in TV-Zeitung verlesen…).
Mein Gehirn ist immer noch häufig durch Überforderung, Überreizung „besetzt, bewohnt, blockiert“ (2), aber ich versuche Heute Schritt für Schritt eine lebbare Form des Daseins (3) mit meiner Hochsensibilität zu finden.

Immer noch ist mein Körper Anzeiger für Stress und Überforderung (seit 2018 – begonnen mit der Vorbereitung zu meiner Mercutioundichausstellung bis heute macht mir eine Körperregion besondere Beschwerden, was mich belastet).
Immer noch rauscht es oft nach Überforderung vor dem Einschlafen vor meinem inneren Auge wie ein zu schnell abgespulter, früherer Farbfilm; wie entgegenkommende Autos auf der Autobahn bei Nacht nach einer längeren Autofahrt; wie fratzenhaft-comicmäßige, heran- oder wegrauschende Figuren, die sich ständig wiederholen…
Immer noch scheine ich manchmal überschwänglich zu sein, zu strahlen, wenn mir eigentlich nicht danach ist…

1: Nach Seiler, vgl. Artikel zu Stern 111.
2: vgl.a.a.O.
3: ebd.